Wegeunfall und dennoch kein Versicherungsschutz? Bundessozialgericht (BSG) verschärft Rechtsprechung
Das BSG hat die Grenzen des Versicherungsschutzes in der gesetzlichen Unfallversicherung (SGB VII) auf dem Weg von und zur Arbeit (Wegeunfall) neu gezogen und dabei den Versicherungsschutz eingeschränkt.
Das Problem
Auf dem Weg von und zur Arbeitsstelle besteht grundsätzlich Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) entfällt der Versicherungsschutz, wenn private Interessen während der Fahrt im Vordergrund der Handlung stehen. Dabei waren bislang geringfügige Abweichungen unschädlich. Das BSG zog die Grenze beispielsweise beim Wechsel der Straßenseite oder Überqueren der Straße, etwa um private Einkäufe zu erledigen. In mehreren Entscheidungen vom Juli 2013 hat das BSG nun die Grenze deutlich enger gezogen. Damit wird der Versicherungsschutz deutlich eingeschränkt.
Die Entscheidungen
In zwei Entscheidungen vom 18.06.2013 beschäftigt sich das BSG mit der Handlungstendenz von Überfällen auf die versicherte Person. In dem einen Fall (B 2 U 7/12 R) wurde der Versicherte überfallen, als er von einem Restaurant nach Hause ging. Er hatte abends das Restaurant aufgesucht, um dort zu essen und weiter an einer Rede für seinen Arbeitgeber zu arbeiten. Dieser wollte er nach dem Essen im seinem Home Office zuhause fertig stellen. Auf dem Weg nach Hause wurde er überfallen und verletzt. Nach Auffassung des BSG war er auf diesem Weg nicht versichert, weil das Essen im Restaurant überwiegend aus privaten Interessen erfolgt sei.
In dem anderen Fall (B 2 U 10/12 R) wurde eine Versicherte in ihrer Garage überfallen und vergewaltigt, als sie sich auf den Weg zur Arbeit gemacht hatte. Der Täter kam aus ihrem privaten Umfeld. Dies hat das BSGE ausreichen lassen, der versicherten Lehrerin den Versicherungsschutz zu versagen. Der Überfall sei aus privaten Motiven und nur gelegentlich des Weges zur Arbeit erfolgt und sei deshalb nicht vom Versicherungsschutz erfasst.
In zwei Entscheidungen vom 4.7.2013 hat das BSG mit Rücksicht auf die eigenwirtschaftliche Handlungstendenz in Versicherungsschutz versagt. In beiden Fällen (B2 U 3/13 R und B2 U 12/12 R) hat die Versicherten auf dem direkten Weg zur Arbeit auf der Straße angehalten, um für private Zwecke zum Einkaufen bzw. Tanken abzubiegen. Während sie noch auf öffentlichen Straßen standen, kam es zu einem Auffahrunfall. Anders als in früheren Entscheidungen hat das BSG nicht darauf abgestellt, dass zum Zeitpunkt des Unfalls noch nicht die andere Straßenseite erreicht worden war. Entscheidend für die Versagung des Versicherungsschutzes sei vielmehr die innere Handlungstendenz. Bereits das Anhalten sei erfolgt, um eigenwirtschaftliche Zwecke zu verfolgen. Nur dadurch sei es zum Unfall gekommen. Das reiche aus, um den Versicherungsschutz zu versagen.
Folgen für die Praxis
Mit dieser neueren Rechtsprechung verfolgt das BSGE seine bereits in den letzten Jahren erkennbare Tendenz weiter, die frühere mehr von Einzelfallgerechtigkeit geprägte Rechtsprechungspraxis im Hinblick auf eine größere dogmatische Stringenz zu verändern. Zugleich verschafft es die Anforderungen für den Versicherungsschutz. Während bislang mehr äußere Gesichtspunkte als Abgrenzungstatbestände herangezogen wurden wie etwa der Wechsel der Straßenseite oder die so genannte Außentürregel (der Versicherungsschutz beginnt erst nach Verlassen des privaten Hauses in den öffentlichen Raum), scheint das BSG jetzt verstärkt auf die innere Handlungstendenz abzustellen und jegliche Unfallverursachung, die aus der Privatsphäre des Versicherten entstanden ist, generell vom Versicherungsschutz ausnehmen zu wollen.
Das ist dogmatisch konsequent, führt aber gegenüber der bisherigen Rechtsprechung zu einer Einschränkung des Versicherungsschutzes. Es stellt zugleich erhöhte Anforderungen an die auf den Versicherungsschutz gerichtete Sachverhaltsdarstellung.
Als neue Regel kann man danach wohl festhalten: „Wer auf dem Weg zur Arbeit private Dinge erledigt, gefährdet den Versicherungsschutz in dem Moment, in dem er mit der Privat motivierten Handlung beginnt“. Und: „Wer auf dem Weg von oder zur Arbeit aus privaten Gründen überfallen wird, ist in der gesetzlichen Unfallversicherung nicht versichert„.
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