Sozialleistungsträger haftet bei Beratungspflichtverletzung

25.10.2018  • Mönchengladbach / Sozialrecht / Zivilrecht

Bei Sozialleistungen besteht eine umfassende Beratungspflicht. Leistungsberechtigte kennen sich oft nicht gut aus. Die Sozialleistungsträger müssen dann gezielt beraten. Tun Sie das nicht oder falsch, kann ein Schadensersatzanspruch bestehen.

Die Ausgangssituation

Das Sozialleistungssystem ist kompliziert und für den Normalbürger undurchsichtig. Es gibt viele verschiedene Sozialleistungsträger, die für eine bestimmte Situation zuständig sein können. Eine einheitliche Beratungsstelle für alle Sozialleistungen, an die man sich wenden kann, gibt es nicht. Die Ansprechpartner der einzelnen Sozialleistungsträger müssen deshalb einen Überblick über die verschiedenen Sozialleistungen haben und die Leistungsberechtigten entsprechend beraten können. Häufig ist das allerdings nicht der Fall. Viele Sachbearbeiter kennen sich nur in ihrem eigenen Tätigkeitsbereich aus, manche wollen sich auch lästige Fragesteller nur vom Leib halten.

Beratungspflicht

Der Gesetzgeber hat das Problem gesehen und in § 14 SGB I den Beratungsanspruch festgeschrieben: „Jeder hat Anspruch auf Beratung über seine Rechte und Pflichten nach diesem Gesetzbuch.“ Die Auskunftspflicht nach § 15 SGB I, die Hilfestellung bei der richtigen Antragstellung nach § 16 SGB I und die Umsetzungsverpflichtung in der praktischen Durchführung nach § 17 SGB I ergänzen den allgemeinen Beratungsanspruch und verpflichten auch die unzuständigen Leistungsträger dafür zu sorgen, dass der Bürger an den richtigen Leistungsträger verwiesen wird. § 2 Abs. 2 SGB I bestimmt zudem, dass über die Auslegung der Vorschriften des Sozialgesetzbuchs die sozialen Rechte möglichst weitgehend verwirklicht werden.

Ausgehend von dieser Gesetzeslage hat das Bundessozialgericht in ständiger Rechtsprechung die Beratungsverpflichtung konkretisiert:

  1. Auch unzuständige Sozialleistungsträger müssen für Leistungen aus angrenzenden Bereichen beraten, mindestens an den zuständigen Leistungsträger verweisen (BSG vom 22.10.1996 – 13 RJ 69/95).
  2. Die Beratungspflicht besteht als sogenannte Spontanberatung selbst ohne konkrete Frage schon dann, wenn ein Beratungsbedarf für den fachkundigen Sozialleistungsträger erkennbar ist. Dann muss sogar auf eine naheliegende Gestaltungsmöglichkeit verwiesen werden, selbst wenn diese für den Sozialleistungsträger „nachteilig“ ist. Die Beratung muss so ausfallen, dass die sozialen Rechte des Bürgers möglichst weitgehend verwirklicht werden (BSG vom 18.1.2011 – B4 AS 29/10 R).
  3. Die Beratungspflicht erstreckt sich auch auf außerhalb des eigenen Zuständigkeitsbereichs liegende Sachverhalte (BSG vom 19.02.1987 – 12 RK 55/84). Der mit der Angelegenheit befasste Sozialleistungsträger muss deshalb mindestens an einen zuständigen Leistungsträger verweisen (BSG vom 6.5.2010 – B 13 R 44/09 R). Unter Umständen muss er sogar darüber hinaus aktiv werden und ein Tätigwerden des zuständigen Leistungsträgers veranlassen (BSG vom 30.10.2001 – B 3 KR 27/01 R).

Was geschieht, wenn die Beratungspflicht verletzt wird?

In der sozialrechtlichen Massenverwaltung kommen immer wieder Beratungspflichtverletzungen vor. Diese sind gewissermaßen an der Tagesordnung und zu einem guten Stück strukturell vorgegeben, weil Sachbearbeiter nicht ausreichend ausgebildet sind, teilweise nur befristet beschäftigt werden oder schlicht und einfach wegen zu vielen zugewiesenen Fällen überlastet sind. Zwischen dem gesetzgeberischen Anspruch an die Beratungsqualität und der tatsächlichen Beratungsleistung in der Realität liegen deshalb häufig Welten. Viele Betroffene erleben sich selbst als Objekt bürokratischen Handelns und unwilliger Mitarbeiter. Vielfach wird Beratung faktisch nur von freien Beratungsstellen geleistet oder erst in der anwaltlichen Beratungssituation.

Insbesondere wenn infolge von gebotener aber unterlassener Beratung Fristen verpasst werden, ermöglicht das Sozialrecht eine Korrektur. Solange und soweit durch ein rechtmäßiges Verwaltungshandeln der Beratungsfehler korrigiert werden kann, geschieht das über den von der Rechtsprechung entwickelten sogenannten sozialrechtlichen Herstellungsanspruch. Das gilt insbesondere bei Fristversäumnissen oder unterbliebenen Anträgen auf bestimmte Sozialleistungen, sofern diese nachgeholt werden können. Diese Versäumnisse können dadurch „repariert“ werden, dass so getan wird, als sei eine Frist eingehalten oder ein Antrag rechtzeitig gestellt worden.

Im Rahmen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs ist egal, aus welchen Gründen die richtige Beratung unterblieben ist. Wenn sie hätte erteilt werden müssen, ist die Reparatur über den Herstellungsanspruch unabhängig von Verschulden möglich.

Anders ist es, wenn durch rechtmäßiges Verwaltungshandeln eine Reparatur nicht möglich ist. Das ist etwa in Rentenangelegenheiten der Fall, wenn ein Rentenantrag nicht gestellt worden ist. Dann kann wegen § 99 Abs. 1 S. 2 SGB VI die Rente nicht rückwirkend bewilligt werden. In diesen Fällen hilft nur ein zivilrechtlicher Schadensersatzanspruch. Dieser so genannte Amtshaftungsanspruch nach § 839 BGB in Verbindung mit Art. 34 GG setzt aber voraus, dass bei dem Sozialleistungsträger die Beratungspflicht schuldhaft verletzt worden ist, also mindestens Fahrlässigkeit vorgelegen hat. Dieses Verschulden wird zwar vermutet, wenn eine objektive Pflichtverletzung vorliegt, muss aber dennoch letzten Endes von dem Beratung suchenden Bürger bewiesen werden.

Wenn der Sozialleistungsträger bei Geltendmachung eines Schadensersatzanspruchs nicht zu einer außergerichtlichen Regelung bereit ist, muss zudem eine Klage vor dem Landgericht erhoben werden. Dadurch entstehen dann auch nicht unerhebliche Kostenrisiken. Insbesondere bei höheren Streitwerten und mehreren Instanzen kann das teuer werden, wenn man den Prozess nicht gewinnt.

In einem kürzlich ergangenen Urteil vom 2.8.2018 hat der Bundesgerichtshof allerdings einem Kläger recht gegeben und einen Amtshaftungsanspruch bejaht (BGH vom 2.8.2018 – III ZR 466/16). In dem Fall hatte ein Sozialhilfeträger fälschlicherweise nicht darüber beraten, dass eine Erwerbsminderungsrente hätte beantragt werden können. Diese ist dann erst Jahre später bewilligt worden. Über den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch war das Beratungsverschulden des Sozialhilfeträgers nicht zu reparieren. Deshalb hat der Bundesgerichtshof in letzter Instanz ein Urteil des Landgerichts bestätigt, wonach der Sozialhilfeträger Schadensersatz leisten muss.

In einem von uns geführten Verfahren aus dem Jahr 2009 haben wir vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf  für unseren Mandanten einen Schadensersatz in deutlich fünfstelliger Höhe durchgesetzt, weil das Jugendamt ihn nicht richtig über ihm zustehende jugendhilferechtliche Ansprüche beraten hatte.

Schlussfolgerung

Wer sich an einen Sozialleistungsträger wendet, sollte deutlich machen, dass er eine umfassende Beratung wünscht. Bei unterbliebener oder fehlerhafter Beratung und einem dadurch entstandenen Schaden ist eine qualifizierte anwaltliche Beratung sinnvoll. In vielen Fällen lässt sich innerhalb des sozialrechtlichen Verfahrens bei guter fachlicher Unterstützung ein Beratungsverschulden reparieren. Geht das nicht, lohnt eine intensive Prüfung möglicher Amtshaftungsansprüche.

 




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