Darf der Arbeitgeber die Wiedereingliederung verweigern?

16.10.2018  • Arbeitsrecht / Sozialrecht

Wiedereingliederung geht nur mit Zustimmung des Arbeitgebers. Behinderte oder von Behinderung bedrohte Arbeitnehmer können die Wiedereingliederung erzwingen. Bei ungerechtfertigter Verweigerung kann es Schadensersatz und Entschädigung wegen Diskriminierung geben.

Ist ein Arbeitnehmer lange arbeitsunfähig, kann eine stufenweise Wiedereingliederung nach dem so genannten Hamburger Modell die Arbeitsaufnahme erleichtern. Viele Arbeitgeber unterstützen diesen Weg, manchmal wird aber die Zustimmung zur Wiedereingliederung verweigert. Dann ergeben sich zahlreiche Rechtsfragen, insbesondere ob der Arbeitgeber zustimmen muss und ob eine Verweigerung der Zustimmung zu Schadensersatzansprüchen führt.

Rechtsgrundlagen

Grundsätzlich ist der Arbeitnehmer so lange arbeitsunfähig, wie er nicht die geschuldete Arbeitsleistung in vollem Umfang erbringen kann. Wer also bei einer Vollzeittätigkeit nicht wieder vollzeitarbeiten kann, bleibt arbeitsunfähig, auch wenn er in Teilzeit arbeiten könnte. Eine Teilarbeitsunfähigkeit gibt es nach der Rechtsprechung nicht. Deshalb lässt sich eine stufenweise Wiedereingliederung mit langsamer Anpassung der täglichen Arbeitszeit bis zur vertraglich geschuldeten Arbeitszeit nur mit Zustimmung des Arbeitgebers realisieren.

74 SGB V ist für die stufenweise Wiedereingliederung im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung die Rechtsgrundlage. Dort heißt es: „Können arbeitsunfähige Versicherte nach ärztlicher Feststellung Ihre bisherige Tätigkeit teilweise verrichten und können sie durch eine stufenweise Wiederaufnahme ihrer Tätigkeit voraussichtlich besser wieder in das Erwerbsleben eingegliedert werden, soll der Arzt auf der Bescheinigung über die Arbeitsunfähigkeit Art und Umfang der möglichen Tätigkeiten angeben und dabei in geeigneten Fällen die Stellungnahme des Betriebsarztes oder mit Zustimmung der Krankenkasse die Stellungnahme des medizinischen Dienstes (§ 275) einholen.“

Fast wortgleich sieht § 44 SGB IX für die Rehabilitation und Teilhabe behinderter oder von Behinderung bedrohter Menschen die stufenweise Wiedereingliederung vor.

Weil so lange, wie die volle Arbeitsfähigkeit nicht wiederhergestellt ist, weiterhin Arbeitsunfähigkeit besteht, muss der Arbeitgeber auch für eine teilweise erbrachte Dienstleistung keine Vergütung zahlen. Das Wiedereingliederungsverhältnis ist – so das Bundesarbeitsgericht am 06.12.2017 – 5 AZR 815/16  – ein Rechtsverhältnis eigener Art, das die Rehabilitation des Arbeitnehmers zum Ziel hat und nicht den Austausch von Leistung und Gegenleistung. Vielmehr erhält der Arbeitnehmer weiterhin Krankengeld oder Übergansgeld. Falls der Arbeitgeber dennoch anteilig entsprechend der geleisteten Stundenzahl Vergütung zahlt, wird diese auf das Krankengeld angerechnet. Es besteht allerdings Streit darüber, ob die Anrechnung zulässig ist.

Muss der Arbeitgeber der Wiedereingliederung zustimmen?

Aus dem Wortlaut der Vorschrift keine Verpflichtung des Arbeitgebers, eine stufenweise Wiedereingliederung durchzuführen. Im Normalfall kann nach dem bisherigen Stand der Rechtsprechung die Wiedereingliederung gegen den Willen des Arbeitgebers deshalb nicht durchgesetzt werden.

Zustimmungspflicht bei schwerbehinderten Arbeitnehmern

Anders ist es bei schwerbehinderten Arbeitnehmer. Für diese bestimmt nämlich § 164 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 SGB IX, dass schwerbehinderte Menschen von ihrem Arbeitgeber eine Beschäftigung verlangen können, „bei der sie ihre Fähigkeiten und Kenntnisse möglichst voll verwerten und weiterentwickeln können“. Dazu gehört auch eine stufenweise Wiedereingliederung nach § 74 SGB V. Es muss dann allerdings eine ärztliche Bescheinigung vorgelegt werden, aus der sich ergibt, wie genau die empfohlene Beschäftigung aussehen soll, welche Beschäftigungsbeschränkungen es gibt und welchen Umfang der täglichen und wöchentlichen Arbeitszeit zur sowie welche Dauer die Maßnahme haben soll. Außerdem muss die Bescheinigung die Prognose enthalten, wann voraussichtlich wieder die volle Arbeitsfähigkeit erreicht sein wird. Der Arbeitnehmer muss also ein Attest entsprechend § 74 SGB V vorlegen. Dann ist der Arbeitgeber nach § 164 Abs. 4 SGB IX verpflichtet, die Zustimmung zur Wiedereingliederung zu erteilen, wenn es ihm zumutbar und nicht mit unverhältnismäßigen Aufwendungen verbunden ist (§ 164 Abs. 4S. 3 SGB IX).  (so das LAG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 23. Mai 2018,15 Sa 1700/17) und zuvor das Bundesarbeitsgericht (Urteil vom 13.06.2006, 9 AZR 229/05).

Zustimmungspflicht auch bei behinderten, aber nicht schwerbehinderten Arbeitnehmern?

164 SGB IX gilt wegen § 151 Abs. 1 SGB IX unmittelbar nur für schwerbehinderte oder diesen gleichgestellte Arbeitnehmer. Schwerbehindert ist man nur mit einem GdB von mindestens 50 (§ 2 Abs. 2 SGB IX), gleichgestellt mit einem GdB von mindestens 30 und einem Gleichstellungsbescheid der Bundesagentur für Arbeit (§§ 2 Abs.3, 151 Abs. 2, 152 SGB IX). Europarechtlich ist der Arbeitgeber nach Art. 5 Abs. 2 RL 2000/78 EG aber auch bei behinderten oder von Behinderung bedrohten Menschen unterhalb der Schwelle der Schwerbehinderung verpflichtet, angemessene Vorkehrungen zu treffen, um eine u.a. behinderungsgerechte Beschäftigung zu ermöglichen. Nach dem Grundsatz der europarechtskonformen Auslegung der nationalen Gesetze ist deshalb auch unterhalb der Schwelle der Schwerbehinderung der Rechtsgedanke aus § 164 SGB IX entsprechend anzuwenden. Das BAG will die europarechtlichen Vorgaben über § 241 Abs. 2 BGB (Treu und Glauben) berücksichtigt wissen (BAG 19.12.2013 – 6 AZR 190/12).

Eine Behinderung kann auch schon in einer chronischen Krankheit liegen, wenn diese zu Teilhabebeeinträchtigungen führt.  Das hat das BAG (19.12.2013 – 6 AZR 190/12)  in einem Kündigungsrechtsstreit im Fall einer HIV-Infektion entschieden. Damit können selbst Arbeitnehmer, bei denen nicht einmal ein GdB von unter 30 festgestellt worden ist, behindert sein. Insbesondere bei langer Arbeitsunfähigkeit oder chronischen schweren Erkrankungen kann deshalb eine Pflicht des Arbeitgebers bestehen, einer beantragten Wiedereingliederung zuzustimmen. Der Arbeitgeber kann dem nur entgehen, wenn er konkret darlegen und beweisen kann, dass und warum ihm die Wiedereingliederung nicht zumutbar oder mit unverhältnismäßigen Aufwendungen verbunden ist. Wenn keinerlei Betriebsablaufstörungen drohen, keine Vergütung gezahlt werden muss, genügend Arbeit vorhanden und eine Kontrolle nicht mit unzumutbarem Aufwand verbunden ist, wird der Arbeitgeber einer Wiedereingliederung also zustimmen müssen.

Schadensersatzanspruch bei Weigerung zu Wiedereingliederung

Besteht eine Verpflichtung des Arbeitgebers, der Wiedereingliederung zuzustimmen, macht er sich schadensersatzpflichtig, wenn er diese ohne sachlichen Grund nicht erteilt. Das LAG Berlin-Brandenburg (15 SA 1700/17) hat den Schaden darin gesehen, dass wegen der zunächst verweigerten Wiedereingliederung die volle Arbeitsfähigkeit erst mehr als einen Monat später als zuerst vom Arzt prognostiziert wieder eingetreten ist. Deshalb ist der Arbeitnehmerin dort der dadurch entgangene Verdienst als Schadensersatz zugesprochen worden. Auch das BAG hat bereits entschieden, dass der Arbeitgeber die entgangene Vergütung als Schadensersatz zahlen muss, wenn er seine Pflicht zur behinderungsgerechten Beschäftigung aus § 164 SGB IX (früher § 84 SGB IX) verletzt (BAG vom 04.10.2005 – 9 AZR 632/04). Welcher Schaden jeweils tatsächlich entsteht, hängt aber immer von der jeweiligen Fallkonstellation ab.

Allein die Pflichtverletzung des Arbeitgebers begründet noch keinen Schaden. Wenn die  Zustimmungsverweigerung zugleich ein Verstoß gegen die Pflicht darstellt, angemessene Vorkehrungen zu treffen, um eine behinderungsgerechte Beschäftigung zu ermöglichen, kann darin zugleich eine Diskriminierung wegen der Behinderung liegen. Dann kann auch ohne konkreten Schaden eine Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG verlangt werden. Diese beträgt höchstens drei Monatsgehälter und der Anspruch muss innerhalb von zwei Monaten ab Kenntnis von der Benachteiligung schriftlich geltend gemacht werden.

Vom Schadensersatz wegen fehlender Zustimmung zur Wiedereingliederung zu unterscheiden, ist die Frage, ob der Arbeitgeber Annahmeverzugslohn schuldet, wenn der Arbeitnehmer die Wiedereingliederung verlangt hat. Das ist normalerweise nicht der Fall, wenn nur die Wiedereingliederung verlangt, aber nicht auch die geschuldete Arbeitsleistung angeboten wird (BAG vom 06.12.2017 – 5 AZR 815/16).

Fazit

Insbesondere schwerbehinderte Menschen können eine Wiedereingliederung bei ihrem Arbeitgeber auch gegen dessen Willen durchsetzen und Schadensersatz verlangen, wenn die Zustimmung rechtswidrig verweigert wird. Das steht in Übereinstimmung mit den weiteren Pflichten des Arbeitgebers bei Schwerbehinderung. Das Gesetz will, dass Arbeitgeber alles tun, um Arbeitsplätze für Schwerbehinderte zu erhalten und zu schaffen. So haben schwerbehinderte Menschen auch einen Anspruch auf Teilzeitbeschäftigung, wenn das wegen der Schwere der Behinderung notwendig ist (§ 164 Abs. 5 SGB IX).

Arbeitnehmer ohne Behinderung sind im Regelfall auf die Mitwirkungsbereitschaft des Arbeitgebers bei der Wiedereingliederung angewiesen. Nur in seltenen Ausnahmefällen kann es auch ohne Vorliegen einer Schwerbehinderung zu einer Zustimmungspflicht des Arbeitgebers kommen und die Weigerung Schadensersatzansprüche auslösen.

Wenn die Verweigerung der Wiedereingliederung zugleich eine Diskriminierung wegen einer Behinderung ist, müssen Entschädigungsansprüche binnen zweier Monate schriftlich geltend gemacht werden.

Ob eine Behinderung vorliegt und ob die Verweigerung einer Wiedereingliederung rechtswidrig und womöglich eine Diskriminierung ist, erfordert eine gründliche rechtliche Prüfung im Einzelfall. Wegen der kurzen Fristen für eine etwaige Entschädigung, sollte zeitnah eine rechtliche Klärung gesucht werden.

 




Weitere Artikel des Autors:

Beiträge und Kommentare geben die persönliche Auffassung der jeweiligen Autoren wieder, welche nicht unbedingt der Auffassung der SWPMG entspricht. Sie dienen lediglich der Information und Diskussion, d.h. stellen keine Rechtsberatung dar und dürfen nicht als Entscheidungsgrundlage in konkreten Rechtsfällen verwendet werden.