§ 44 SGB X gilt auch im Sozialhilferecht

18.10.2007  • Sozialrecht

Auch in der Sozialhilfe können bestandskräftige Bescheide rückwirkend auf Antrag überprüft und zugunsten der Hilfesuchenden geändert werden. Das hat das Bundessozialgericht (BSG) am 16.10.2007 entschieden (BSG, Urteil vom 16.10.2007, B 8/9b SO 8/06 R ). Das Urteil ist für das Sozialhilferecht von grundlegender Bedeutung. Es korrigiert eine langjährige Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG), das bis 2004 für das Sozialhilferecht zuständig war.

Worum geht es?

Das Sozialrecht ist besonders bürgerfreundlich. Es will die sozialen Rechte der Bürger möglichst weitgehend verwirklichen (§ 2 SGB I) und will das auch durch die formellen Verfahrensvorschriften sicherstellen. Das im SGB X geregelte Verfahrensrecht gilt grundsätzlich im gesamten Sozialrecht. Ein Aspekt dieses Grundsatzes ist die in § 44 SGB X geregelte Möglichkeit, Bescheide eines Sozialleistungsträger jederzeit überprüfen lassen zu können; auch dann, wenn sämtliche Fristen für Widerspruch und Klage bereits abgelaufen sind. Das ist im allgemeinen Verwaltungsrecht anders. Dort ist eine solche ܜberprüfung im Regelfall nicht möglich und nur in sehr engen Grenzen zulässig.

Das Sozialhilferecht galt auch schon bis 2004 als besonderer Teil des Sozialrechts und es waren die sozialrechtlichen Verfahrensvorschriften anzuwenden. Streitigkeiten waren aber nicht vor den Sozialgerichten, sondern vor den Verwaltungsgerichten auszutragen. Diese taten sich mit den speziellen bürgerfreundlichen Verfahrensvorschriften schwer. Das Bundesverwaltungsgericht hatte für das Sozialhilferecht die Anwendbarkeit des § 44 SGB X abgelehnt. U.a. weil Sozialhilfe auch ohne Antrag ab Kenntnis des Hilfebedarfs, aber nicht rückwirkend für die Vergangenheit gewährt wird, sei wegen der angeblichen besonderen Strukturprinzipien des Sozialhilferechts eine Anwendbarkeit des § 44 SGB X ausgeschlossen.

Mit dieser eigentlich gesetzeswidrigen Auslegung hat das Bundessozialgericht jetzt aufgeräumt. Seit den Hartz-IV-Reformen ist das Sozialhilferecht nicht mehr im BSHG geregelt, sondern im SGB XII und für Rechtsstreitigkeiten sind seit dem 01.01.2005 – endlich – auch die Sozialgerichte zuständig. Diese haben langjährige Erfahrungen mit der Anwendung der sozialrechtlichen Verfahrensvorschriften im allgemeinen und ܜberprüfungsanträgen nach § 44 SGB X im Besonderen.

Der entschiedene Fall:

Im konkreten Fall hatte das Sozialamt – wie sich später herausstellte rechtswidrig – Kindergeld nicht als Einkommen des Kindes, sondern der Eltern behandelt und den Hilfeanspruch entsprechend gekürzt. Später korrigierte es seine bestandskräftigen Entscheidungen zwar mit Wirkung für die Zukunft, lehnte jedoch die Rücknahme der früheren Bescheide und die Zahlung von Leistungen für die Vergangenheit ab, weil im Sozialhilferecht die Gewährung von Leistungen für die Vergangenheit ausgeschlossen sei.
Der Rechtsstreit betrifft die Zeit vom 1.1. bis zum 30.6.2005. Die beiden 1985 geborenen Kläger sind voll erwerbsgemindert. Das Sozialgericht Aachen (SG) – S 20 SO 26/06 – hat das beklagte Sozialamt verurteilt, den Klägern für den streitigen Zeitraum unter Abänderung des bestandskräftigen Bescheides jeweils insgesamt 970,89 € zu zahlen. Mit seiner Sprungrevision rügt der Beklagte, § 44 SGB X finde entgegen der Entscheidung des SG im Rahmen des SGB XII keine Anwendung.

Das BSG hat die Rechtsfrage grundsätzlich genau so wie das SG Aachen entschieden und in seinem Terminsbericht mitgeteilt:

„Das SG hat zu Recht angenommen, dass das SGB X (Sozialverwaltungsverfahren) auch für die Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung ( § § 41 ff des am 1.1.2005 in Kraft getretenen SGB XII) Anwendung findet. Mit dem SGB XII wurde das Bundessozialhilfegesetz (BSHG) abgelöst, das selbst bis zur Einordnung des Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch als Bestandteil des Sozialgesetzbuchs galt. Eines besonderen Anwendungsbefehls für das SGB X bedurfte es deshalb unabhängig davon nicht, dass die Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem bis zum 31.12.2004 geltenden Grundsicherungsgesetz (GSiG) bereits vor ihrer Einbeziehung in das SGB XII in der Sache als sozialhilferechtliche Regelungen zu verstehen waren. Grundsätzlich ist wegen der Ausgestaltung der Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung § 44 SGB X anwendbar; § 44 SGB X ermöglicht die Rücknahme rechtswidriger bestandskräftiger Verwaltungsakte, mit denen Sozialleistungen in der Vergangenheit abgelehnt worden sind, und die nachträgliche Leistungserbringung. Der Anwendung des § 44 SGB X stehen sog Strukturprinzipien, die das Bundesverwaltungsgericht für das Sozialhilferecht entwickelt hat, nicht entgegen.“

Weil nicht klar war, in welcher Höhe die Kläger noch Leistungen nachgezahlt bekommen müssen, hat das BSG den Rechtsstreit an das SG Aachen zurückverwiesen.

Kommentar: 

Die Entscheidung ist für die Praxis sehr wichtig. Sie ermöglicht endlich auch im Sozialhilferecht die Korrektur von Fristversäumnissen. Es war ohnehin ein Skandal, dass gerade bei denjenigen Bürgern, die in besonderem Maߟe benachteiligt sind und Sozialleistungen benötigen, eine zentrale Schutzvorschrift des Verfahrensrechts nicht gelten sollte. Allerdings heiߟt das nicht, dass nunmehr die Versäumung von Fristen unschädlich wäre: Die objektive Beweislast  für die Rechtswidrigkeit der ursprünglichen Verwaltungsentscheidung liegt beim Hilfesuchenden, der die Korrektur verlangt und zu Unrecht nicht gewährte Sozialleistungen können längstens für 4 Jahre rückwirkend verlangt werden. 




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