Hartz-IV-Sanktionen teilweise verfassungswidrig

18.11.2019  • Mönchengladbach / Sozialrecht

Abzüge wegen Verletzung von Mitwirkungspflichten über 30% des Regelbedarfs sind mit dem Grundgesetz nicht vereinbar, so dass Hartz IV-Sanktionsbescheide (SGB II) teilweise rechtswidrig und aufzuheben sind.

Das BVerfG hat entschieden, dass Leistungsminderungen zur Durchsetzung von Mitwirkungspflichten bei Arbeitslosengeld II maximal bis zu 30% des Regelbedarfs möglich sind; die bisher möglichen Abzüge bei Verletzung der Mitwirkungspflicht um 60% oder 100% sind mit dem Grundgesetz dagegen nicht vereinbar (siehe BVerfG, Urteil vom 5.11.2019 1 BvL 7/16).

Mit dem Grundgesetz unvereinbar seien Sanktionen unabhängig von ihrer Höhe, soweit der Regelbedarf bei einer Pflichtverletzung auch im Fall außergewöhnlicher Härten zwingend zu mindern sei und soweit für alle Leistungsminderungen eine starre Dauer von drei Monaten vorgegeben werde, so das BVerfG. Das BVerfG hat die Vorschriften mit entsprechenden Maßgaben bis zu einer Neuregelung für weiter anwendbar erklärt.

Nach § 31 Abs. 1 SGB II verletzen erwerbsfähige Empfänger von Arbeitslosengeld II, die keinen wichtigen Grund für ihr Verhalten darlegen und nachweisen, ihre Pflichten, wenn sie sich trotz Rechtsfolgenbelehrung nicht an die Eingliederungsvereinbarung halten, wenn sie sich weigern, eine zumutbare Arbeit, Ausbildung, Arbeitsgelegenheit oder ein gefördertes Arbeitsverhältnis aufzunehmen, fortzuführen oder deren Anbahnung durch ihr Verhalten verhindern oder wenn sie eine zumutbare Maßnahme zur Eingliederung in Arbeit nicht antreten, abbrechen oder Anlass für den Abbruch gegeben haben. Rechtsfolge dieser Pflichtverletzungen ist nach § 31a SGB II die Minderung des Arbeitslosengeldes II in einer ersten Stufe um 30% des für die erwerbsfähige leistungsberechtigte Person maßgebenden Regelbedarfs. Bei der zweiten Pflichtverletzung mindert sich der Regelbedarf um 60%. Bei jeder weiteren wiederholten Pflichtverletzung entfällt das Arbeitslosengeld II vollständig. Die Dauer der Minderung beträgt nach § 31b SGB II drei Monate.
Das zuständige Jobcenter verhängte gegen den Kläger des Ausgangsverfahrens zunächst eine Sanktion der Minderung des maßgeblichen Regelbedarfes in Höhe von 30%, nachdem dieser als ausgebildeter Lagerist gegenüber einem ihm durch das Jobcenter vermittelten Arbeitgeber geäußert hatte, kein Interesse an der angebotenen Tätigkeit im Lager zu haben, sondern sich für den Verkaufsbereich bewerben zu wollen. Nachdem der Kläger einen Aktivierungs- und Vermittlungsgutschein für eine praktische Erprobung im Verkaufsbereich nicht eingelöst hatte, minderte das Jobcenter den Regelbedarf um 60%.
Nach erfolglosem Widerspruch erhob er Klage vor dem Sozialgericht. Dieses setzte das Verfahren aus und legte im Wege der konkreten Normenkontrolle dem BVerfG die Frage vor, ob die Regelungen in § 31a SGB II i.V.m. §§ 31, 31b SGB II mit dem Grundgesetz vereinbar seien.

Das BVerfG hat entschieden, dass die Höhe einer Leistungsminderung von 30% des maßgebenden Regelbedarfs bei Verletzung bestimmter Mitwirkungspflichten nicht zu beanstanden ist. Allerdings hat es auf Grundlage der derzeitigen Erkenntnisse die Sanktionen mit dem Grundgesetz für unvereinbar erklärt, soweit die Minderung nach wiederholten Pflichtverletzungen innerhalb eines Jahres die Höhe von 30% des maßgebenden Regelbedarfs übersteigt oder gar zu einem vollständigen Wegfall der Leistungen führt. Mit dem Grundgesetz unvereinbar seien die Sanktionen zudem, soweit der Regelbedarf bei einer Pflichtverletzung auch im Fall außergewöhnlicher Härten zwingend zu mindern ist und soweit für alle Leistungsminderungen eine starre Dauer von drei Monaten vorgegeben wird.

Das BVerfG hat die Vorschriften mit entsprechenden Maßgaben bis zu einer Neuregelung für weiter anwendbar erklärt.

Nach Auffassung des BVerfG kann der Gesetzgeber die Inanspruchnahme existenzsichernder Leistungen an den Nachranggrundsatz binden, solche Leistungen also nur dann gewähren, wenn Menschen ihre Existenz nicht selbst sichern können. Er könne erwerbsfähigen Beziehern von Arbeitslosengeld II auch zumutbare Mitwirkungspflichten zur Überwindung der eigenen Bedürftigkeit auferlegen und dürfe die Verletzung solcher Pflichten sanktionieren, indem er vorübergehend staatliche Leistungen entziehe. Aufgrund der dadurch entstehenden außerordentlichen Belastung gelten hierfür allerdings strenge Anforderungen der Verhältnismäßigkeit; der sonst weite Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers sei hier beschränkt. Je länger die Regelungen in Kraft seien und der Gesetzgeber damit deren Wirkungen fundiert einschätzen könne, desto weniger dürfe er sich allein auf Annahmen stützen. Auch müsse es den Betroffenen möglich sein, in zumutbarer Weise die Voraussetzungen dafür zu schaffen, die Leistung nach einer Minderung wieder zu erhalten.

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